Die Stadträte: Herausforderungen, Handlungsfelder, Zuständigkeiten
Im Zusammenhang mit der Demokratiegeschichte des Landes Rheinland-Pfalz spielen die Kommunen eine große Rolle – vielleicht mehr als anderswo in der späteren Bundesrepublik. Mit Blick auf die Anfänge der kommunalen Vertretungen waren – und sind weiterhin – praktische Aspekte nicht zu unterschätzen: Die Berechtigung zur Selbstorganisation bedeutete eben auch eine Verpflichtung für das zu sorgen, was durch Land, Staat und heute die Europäische Gemeinschaft nicht geleistet würde. Gemeindliche Selbstverwaltung ist also nicht allein anhand von Integration und Partizipation, sondern auch von Effektivität zu bemessen (Gabriel 1986, S. 412). Die Übernahme von Verantwortung für die Selbstverwaltung bedeutete daher immer auch eine Belastung, die unter den Bedingungen der unmittelbaren Nachkriegszeit umso schwerer wiegen musste. Dies galt in besonderem Maße für die Bürgermeister und Dezernenten, die über die nicht immer ganz freiwillig gewählten Aufgabenzuteilungen in persönlichen Stellungnahmen oft Auskunft gaben.
Nach Ende des Kriegs bestand Handlungsbedarf auf allen Gebieten. Zahlen können die dahinterstehende menschliche Not nicht angemessen beschreiben, bieten aber doch einen Eindruck: In Ludwigshafen lag die Säuglingssterblichkeit bei 14% (Gleber 2003, S. 456). In Worms hatten noch 11 Jahre nach Kriegsende 25,2% aller Grundschüler kein eigenes Bett (Bönnen 2017, S. 28). Der Kollaps der lokalen Infrastrukturen wurde durch die deutschlandweite und globale Konjunkturentwicklung überdeckt. Die prekären Versorgungsmängel in Westdeutschland bestanden bis mindestens zum Beginn der Währungsreform. Im Zeichen der vorwaltenden Notversorgung war an konstruktive Ansätze bis in die 1950er Jahre oft nicht zu denken. Der Grad der Beeinträchtigung (bzw. Zerstörung) war in den Städten des Bundeslands Rheinland-Pfalz je unterschiedlich. Die Industriestädte Ludwigshafen, Mainz und Kaiserslautern waren erstrangige Kriegsziele, kaum minder Koblenz und Worms. Wie anderswo auch wurden sämtliche Orte unter Beschuss genommen, denen aufgrund ihrer Verkehrslage eine hohe Bedeutung zukam, etwa Remagen und Bingen. Die Grenzlage im Westen bedingte zudem im Gefolge der deutschen Ardennenoffensive und des nachfolgenden Zusammenbruchs der Westfront schwerste Zerstörungen auch in den ländlichen Regionen. Die Altstädte von Bitburg und Prüm wurden komplett zerstört. Dieses Schicksal erlitten aber auch andere kleinere Städte wie Zweibrücken, Pirmasens, Mayen, Remagen und Nassau.
Der Wieder- bzw. Neuaufbau der deutschen Städte vollzog sich im Kern über ein Jahrzehnt vom Beginn der späten 1940er Jahre an. Das sogenannte „Wirtschaftswunder“ der 1950er Jahre hatte unbestreitbar eine beträchtliche Verbesserung der Lebenssituation der westdeutschen Bevölkerung und allgemein eine Vergrößerung der sozialen und kulturellen Teilhabemöglichkeiten zur Folge. Die Leidenserfahrung der physisch, sozial und geistig Entwurzelten, der Heimatlosen, Witwen, der Kriegsversehrten, zu „Trümmerfrauen“ gewordenen Frauen, der Kinder und Alten – sie ist nicht nur durch Erfolgsgeschichten zu glätten. Entsprechendes gilt für das schuldhafte Verhalten von Individuen und Gruppen, für dessen Übertünchung nur allzu gern die Rede von der „Stunde Null“ geführt wurde.
Die kommunale Selbstverwaltung erhielt ihre Rahmung historisch zuerst durch die Verfassung des Bundeslandes Rheinland-Pfalz vom 18.5.1947. Abschnitt V regelt mit den beiden Artikeln 49 und 50 die Bedingungen der Selbstverwaltung und der Vertretungskörperschaften. Hierdurch wurden die Gemeinden in den Stand – und die Pflicht – gesetzt, eigene Verantwortung für jedwede öffentliche Obliegenheit zu übernehmen, sofern nicht anderweitige Landes- bzw. ab 1949 Bundesregelungen dem entgegenstanden (Art. 49). Der Grundsatz der lokalen bzw. regionalen Selbstverwaltung bedeutete damit eine konsequente Anwendung des föderalen Prinzips der Bundesrepublik Deutschland im Verhältnis vom Bundesland zu den Gemeinden. Art. 49 Abs. 1 der Verfassung für Rheinland-Pfalz vom 18.5.1947 betonte sogar mit noch größerem Nachdruck als später das Grundgesetz, dass die Gemeinden die „ausschließlichen“ Träger der „gesamten“ örtlichen Verwaltung seien.
Mit dieser Festlegung war das Fundament dafür geschaffen, dass auch die Ausgestaltung des kommunalen Gemeinde- und Wahlrechts künftig in die Verantwortung des Landes fiel, auch wenn darüber einstweilen noch die Besatzungsmacht wachte.
Die Voraussetzungen der kommunalen Selbstverwaltung werden darüber hinaus im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland seit 1949 fixiert: Art. 28, II, 1 bringt dies im prinzipiellen Sinne zum Ausdruck: „Den Gemeinden muss das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln.“ Das bedeutet nichts Geringeres als die eigenverantwortliche Ausübung von Hoheitsrechten in allen Bereichen, die die spezifischen Belange und Interessen der örtlichen Gemeinschaften berühren – freilich stets unter dem Gesetzesvorbehalt, dass die betroffenen Regelungsbereiche nicht mit höherem (Landes- oder Bundes‑) Recht kollidieren. Folglich steht den Gemeinden die kommunale Selbstorganisation, die Ausübung der Finanz-, Gebiets-, Planungs- oder Personalhoheit zu (Deufel 2009, S. 19–20).
Von den echten Selbstverwaltungsaufgaben sind im Prinzip sogenannte Auftragsaufgaben zu unterscheiden, die Bund und Ländern den Gemeinden zur Erledigung übertragen können. 1954 ist in Rheinland-Pfalz eine wichtige Neuerung eingeführt worden, nach der die Gemeinden derartige Auftragsangelegenheiten durch Satzung eigenständig regeln dürfen (Gönnenwein 1956, S. 224). Damit sollte der auf den Gemeinden lastende Eindruck gemindert werden, sie seien nur Ausführungsorgane. Ungeachtet dessen bedingt die Komplexität und Fülle aller Aufgaben für die Gemeinden große Herausforderungen. Diese steigern die allgemeine Tendenz, dass die Gemeinden in ihrer Funktion als parlamentarische Beschlussgremien zwar bestärkt, als ausübende Verwaltung aber geschwächt werden (Deufel 2009, S. 21).
Literatur
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Beseler, Hartwig / Gutschow, Niels, Rheinland-Pfalz, in: Kriegsschicksale Deutscher Architektur. Verluste – Schäden – Wiederaufbau. Eine Dokumentation für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II: Süd, Neumünster 1988, S. 908–1043.
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Bode, Volker, Kriegszerstörungen 1939–1945 in Städten der Bundesrepublik Deutschland: Inhalt und Probleme bei der Erstellung einer thematischen Karte (mit farbiger Kartenbeilage), in: Europa Regional, 3, 3 (1995), S. 9–20 [online].
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Bönnen, Gerold, Soziale Brennpunkte und die Bemühungen um ihre Überwindung in Worms (1946 bis ca. 1980), in: Volker Gallé / Gunter Mahlerwein (Hgg.), Aufbruch in Rheinhessen. Kultureller und gesellschaftlicher Wandel nach 1945, Worms 2017, S. 10–49.
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Deufel, Konrad, Die Kommunale Selbstverwaltung – Grundgestalt unseres demokratischen Gemeinwesens, in: Uwe Blaurock u.a. (Hgg.), Festschrift für Achim Krämer zum 70. Geburtstag am 19. September 2009, Berlin / New York 2009, S. 15–27.
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Glaser, Hermann, Kleine Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945–1989, 2. Aufl., Bonn 1991.
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Gleber, Peter, Dorado der Trümmer. Facetten der Zusammenbruchgesellschaft in Ludwigshafen, 1945–1948 [= Kap. 15], in: Stefan Mörz / Klaus Jürgen Becker / Stadtarchiv Ludwigshafen am Rhein (Hgg.), Geschichte der Stadt Ludwigshafen am Rhein. Vom Ende des Ersten Weltkrieges bis zur Gegenwart, Bd. 2, Ludwigshafen am Rhein 2003, S. 417–501.
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Gönnenwein, Otto, Zu einigen Fragen des heutigen Gemeinderechts, in: Archiv des öffentlichen Rechts 81, N.F. 2 (1956), S. 214–240.
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Rothenberger, Karl-Heinz, Die Hungerjahre nach dem Zweiten Weltkrieg am Beispiel von Rheinland-Pfalz, in: Kurt Düwell / Michael Matheus (Hgg.), Kriegsende und Neubeginn. Westdeutschland und Luxemburg zwischen 1944 und 1947 (= Geschichtliche Landeskunde, Bd. 46), Stuttgart 1997, S. 159–173 [online].
Verfasser: Stephan Laux (27.7.2023); letzte Veränderung: 29.2.2024.